Mittwoch, 16. November 2022

60 Jahre Sportverweigerung- und dann kam Pickleball




In unserer Familie spielte Sport keine Rolle. Meine älteren Schwestern waren ebenso unsportlich wie meine Eltern. Das Sportinteresse meines Vaters hörte beim Fußballschauen auf der Couch auf. Meistens durch seliges Einschlummern.

Meine früheste Sporterfahrung im Grundschulalter war das orthopädische Turnen, das mir verordnet wurde. Ein qualvoller Drill an der Turnleiter, soweit ich mich erinnere.

Einzig gelegentliches Federballspielen im Garten bereitete mir etwas Freude an Bewegung.

Der Sportunterricht in der Schule war mir eine Qual: alle schienen gelenkiger und flinker als ich zu sein. Ich lernte schnell allerlei Ausreden zu finden, um nicht bei den Spielen und Übungen mitmachen zu müssen.

Das wurde mit einem Schlag erleichtert, als ich endlich meine Mensis bekam. Das war damals ein offizieller Grund nicht am Sportunterricht teilnehmen zu müssen. Die Mädchen hatten ein kleines Oktavheft, in dem die Mutter mit Datum und Unterschrift das Ereignis bestätigte. Die Unterschrift konnte ich mir manches Mal von meiner verschlafenen Mutter des Frühs erschleichen, manches Mal wurde sie schlicht gefälscht. Die Sportlehrerin wurde misstrauisch, denn der Zyklus war verdächtig kurz. Sie drohte mir sogar an, mir die Unterhose herunterzuziehen, um zu prüfen, ob Tante Rosa wirklich zu Besuch war!

Nach der Schule verschwand der Sport ohne Spuren zu hinterlassen aus meinem Leben. Später heiratete ich einen sportlichen Mann, bekam sportliche Kinder und sah allen begeistert beim Basketballspielen, Footbal spielen, Rudern etc. zu. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, mich meiner Familie anzuschließen und mich auf ein Spielfeld, in ein Boot oder an ein Sportgerät zu bewegen.

Mit zunehmendem Alter stellten sich gesundheitliche Probleme ein, die man mit Fug und Recht mit zu wenig Bewegung und zu gutem Essen in Verbindung bringen durfte. Sport war aber auch hier keine Lösung für mich. Ich aß weniger und ging regelmäßig mit unserem Hund spazieren. Das führte zum gewünschten Ergebnis und dem mittlerweile zweiten „Therapiehund“.

Während ich an der Seite unseres Hundes immer fitter wurde, beginnt dieser nun mit stolzen zehn Jahren langsamer zu werden. Er schafft zwar noch das gewünschte Kilometerpensum, aber es dauert Stunden und das langsame Stop and Go ist zwar mental anstrengend, aber nicht körperlich fordernd.

Im Sommer kam unsere Cousine aus den USA zu Besuch. Sie ist seit Jahrzehnten begeisterte Tennisspielerin und hat schon 7 Knieoperationen hinter sich. Ich wusste es immer: Sport ist Mord!!!

Ich berichtete ihr von meinem Wunsch mich körperlich doch mehr zu betätigen, um die fehlenden Hundegänge auszugleichen. Und dass der einzige Sport, der mir jemals einen Funken Freude bereitet hatte, das Federballspielen mit der Mutter im Garten war.

                    Dann musst Du Pickleball spielen!!!

Davon hatte ich im Leben noch nie gehört! Ich erkundigte mich im Internet und fand, dass das Spiel ganz interessant aussieht. Es fand sich ein Verein in Spandau, der Pickleball anbietet und tatsächlich machte ich mich auf die lange Fahrt dorthin.

Die nette Trainingsleiterin drückte mir einen überdimensionierten Tischtennisschläger und einen sonderbar durchlöcherten Kunststoffball in die Hand (warum eigentlich Pickleball, wenn der Ball wie ein Schweizer Käse aussieht?), wies mir einen kleinen Jungen als Spielpartner zu und erklärte, der Ball muss übers Netz und einmal auf ticken, bevor man ihn zurückspielt.

Das klang nicht nur einfach sondern war es auch und der kleine Lausbub machte sich schnell einen Spaß daraus „Jag´ die Oma“ zu spielen. Aber Oma lernte schnell und hatte großen Spaß am Spiel. 

Ich war infiziert! Hier war der Sport, der für mich gemacht war: schnell zu lernen, schnelle Erfolgserlebnisse, nicht zu anstrengend und dennoch körperlich fordernd..

Schon nach dem ersten Training war mir klar: Das ist Liebe auf den ersten Blick! 

Inzwischen sind auch zwei Nachbarinnen, denen ich begeistert von meiner Entdeckung berichtet hatte, wie man so schön neudeutsch sagt, „angefixt“. Wir haben mit viel Engagement einen Verein in Wohnortnähe gefunden, bei dem wir eine Pickleball Abteilung gründen konnten und sehen nun einer gelb gelöcherten strahlenden Zukunft entgegen. Meine Kinder sind immer noch ungläubig, dass in unserem Flur nun eine Sporttasche steht und ihre Mutter Hallensport macht. 





Liebe Berliner, da geht noch was! Macht mit bei diesem in Deutschland neuem Sport und lasst Euch überzeugen: Pickleball ist DER Sport für Jung und Alt. Neugierig? Ihr findet uns auf Facebook und Instagram unter BTV Olympia Pickleball!



Freitag, 8. Juli 2022

Mit 9€ ins Bahn-Abenteuer

Selbsttest ahoi!

Mein 9€ Abenteurer hat begonnen. Als Testrecke habe ich mir Berlin-Hannover/ Langenhagen ausgesucht, eine Fahrt die ich seit vielen Jahren mehrmals jährlich mit dem Auto zurücklege, um Freunde in meiner alten Heimat zu besuchen. Ich will ergründen, wann sich das günstige Ticket lohnt, ob entferntere Ziele in vertretbarer Zeit zu erreichen und wie verbindlich die Anschlüsse sind. Dass eine Fahrt mit dem 9€ Ticket zu touristischen Zielen und oder am Wochenende eher quälend als erholsam ist, hat sich herumgesprochen. Dass Berufspendler und regelmäßige Öffi-Nutzer damit sparen können ist auch klar.

Um kurz vor 7 Uhr stehe ich also nach 12 Minuten Fahrt mit der Tram auf dem Bahnsteig am Alexanderplatz, der noch im Halbschlaf eine ungewöhnliche Stille aufweist, und warte auf den Regionalzug, der mich nach Magdeburg bringen soll. Habe ich wirklich diese frühe Verbindung ausgesucht? Nicht ahnend wie müde man sein kann, wenn man um 5.30 Uhr aufstehen muss, habe ich die frühe Abfahrtzeit tatsächlich ausgewählt, um auch bei Verspätungen, Zugausfällen oder anderen Imponderabilitäten noch genügend Zeit am Zielort und mit meinen Freunden verbringen zu können.


Der Zug rollt pünktlich ein und die inzwischen angekommenen Fahrgäste bevölkern die Sitze. Es sind genug Plätze für alle da, niemand muss stehen. Es bleiben Sitzplätze leer. Moment mal, das können aber keine Berliner sein, die sich hier niederlassen: jeder trägt eine Maske! Und dann noch über der Nase!! Oder haben die Berliner etwa mehr Ehrfrucht vor der Deutschen Bahn als vor der BVG?

 Nun zuckelt die Bahn gemächlich durch Berlin und hält allein in der Stadt an 4 Haltestellen. Danach nimmt der Zug Fahrt auf und wir fahren über Potsdam (wo sich die Anzahl der Fahrgäste drastisch vermindert) durch Brandenburg. Viel Landschaft, wenig Siedlungen. Wie in den Boden gesteckte riesige Streichhölzer stehen die Kiefern in Reih und Glied und sehen dabei nicht gerade eben gesund aus. Waldstücke wechseln sich mit großen Brachen und einigen Agrarflächen ab, auf denen ich einen Fuchs zielstrebig in eine Richtung laufen sehe, in der ich später zwei Kraniche entdecke.


Gelegentlich ist in der Ferne eine verfallene landwirtschaftliche Produktionsanlage oder ein verlassener Bauernhof zu sehen. Wir halten in Ortschaften, die gar keine zu sein scheinen, denn neben dem oft verfallenen Bahnhofsgebäude scheint es gar keine Ansiedlung zu geben. Allein die Namen dieser verschwiegenen Orte müssten Fans der deutschen Sprache, die gern die Herkunft von Ortsnamen erforschen, herausfordern: Wusterwitz, Kirchmöser, Niederndodeleben, Schandelah und Ovelgünne, um nur einige zu nennen. Urbex Freaks müssen hier Feste feiern, so viel Abgerocktes, Verfallenes und Verlassenes ist hier zu finden. Ein paar Graffiti und Kritzeleien weisen darauf hin, dass die Freunde des Verfalls schon Fährte aufgenommen haben.


Mir wird langsam klar, warum sich die Menschen in den ländlichen, östlichen Gebieten abgehängt und nicht mitgenommen fühlen. Die schöne neue Welt der Investoren, der Konsumtempel, des Wiederherrichtens alter Bausubstanz oder gar des modernen Bauens ist hier ebenso wenig

angekommen, wie ein flächendeckendes Internet und Mobilnetz. An einer Haltestelle müssen die Fahrgäste gar über den Schotter am Schienenrand, durch eine Senke über 2 wie selbstgezimmerte Stufen zur nächsten Straße krauchen. Entwürdigend, anders kann ich diesen Service am Bahnkunden nicht empfinden.

Nach 1 ¾ Stunden fahren wir in Magdeburg ein. Offensichtlich ein geschäftiger Umsteigeplatz. Der Bahnhof wird gerade renoviert. Pünktliche Ankunft und pünktliche Abfahrt des Anschlusszuges nach Braunschweig. Geht doch, liebe Bahn! Ich bin beeindruckt.

Auch auf meiner zweiten Strecke ist der Zug nicht ausgelastet, freie Sitzplätze sind verfügbar. (Übrigens haben alle Züge ein Fahrradabteil, dass jeweils gähnend leer war)

Wir haben inzwischen 2 Landesgrenzen unbemerkt überfahren, sind von Berlin über Brandenburg und Sachsen-Anhalt in Richtung Niedersachsen unterwegs. Die Landschaft wechselt. Es wird grüner und die Kiefernwälder werden von Mischwäldern abgelöst. Alles deutet darauf hin, dass es hier mehr Regen gibt als in Berlin-Brandenburg.

Nach etwas mehr als einer Stunde in Braunschweig angekommen bildet sich auf dem Bahnsteig eine lange Schlange. Es gibt nur eine schmale Treppe für Ankommende und Abreisende. Es entsteht ein ziemliches Geschiebe. Alle sind erstaunlich geduldig.

Pünktlich fährt der Zug nach Hannover in Braunschweig ab und erreicht die Landeshauptstadt ebenso pünktlich. Ist diese unerwartete Pünktlichkeit ein Phänomen der Regionalbahnen?

Leider ist ab Hannover Schluss mit lustig und mit pünktlich. Die S-Bahn nach Langenhagen (regulär eine Fahrt von 10 Minuten) fährt mit 36 Minuten Verspätung ab und ist hoffnungslos überfüllt.

Am Ende habe ich von Haustür zu Haustür gut 6,5 Stunden gebraucht. Bis zum Antritt des Rückweges am nächsten Tag um 13.30 Uhr habe ich also etwa 24h Zeit für einen schönen Besuch und einen erholsamen Schlaf.

Die Rückfahrt verläuft ähnlich wie die Hinfahrt: bis Hannover fallen S-Bahnen aus oder sind verspätet, aber ich habe schon gelernt anstatt der S-Bahn den Regionalzug zu nehmen. Ab Hannover läuft wieder alles reibungslos. In Braunschweig gibt es wegen eines Polizeieinsatzes eine verspätete Abfahrt, die aber unterwegs wieder eingeholt wird. Aus den beruhigenden Worten des Zugführers lässt sich schließen, dass ein renitenter Fahrgast von den Ordnungshütern fortgebracht werden musste.

 Mein Fazit?

Für Fahrten in die nähere Umgebung außerhalb von Stoßzeiten und für längere Fahrten, wenn man viel Zeit und Geduld und keine Terminvorgaben hat, lässt sich das 9€ Ticket gut einsetzen. Ich fand die Fahrt angenehm, habe die Reise durch den wilden Osten interessiert in mich aufgenommen. Eine angenehme Entschleunigung. Die Züge waren allesamt sauber, mit gepflegten und bequemen Polstersitzen. Die Fahrgäste durchweg angenehm. Pünktlichkeit war generell gegeben und alle Fahrten waren in keinster Weise mit den visuellen, olfaktorischen und auditiven Erscheinungen zu vergleichen, die einem so manches Mal in Berliner U- oder S-Bahnen die Sinne zu rauben drohen. Ihr wisst schon, was ich meine!

Für mich ist klar: nächster Versuch Hamburg!

 

Berlin-Hannover

Fahrtzeit von Haustür zu Haustür

Kosten

Auto

(292km, Diesel, Verbrauch 6,5l/100km)                   3,5-4 Stunden

40 €*

Deutsche Bahn, schnelle Verbindung

Tram 18 Min.; ICE 1 Std 55 Min; S-Bahn 10 Min gesamt    2 Stunden 23 Min

57,90 €*

Nahverkehr

ohne Tram zweimal Umsteigen und etwa 1 Stunde Aufenthalte         6 Stunden und 30 Minuten

9 €

 

*die Fahrpreise sind natürlich nur beispielhaft und variieren tagesabhängig, mit Spartarifen und Spritpreisen etc.

Montag, 3. Januar 2022

Zirkus, oh Zirkus

Vor einigen Tagen war ich mit meiner Enkelin im Roncalli Winterzirkus. Schon immer war ich von Roncalli begeistert und kann mich noch an die Anfangsjahre erinnern. Nun ist meine Enkelin Fan geworden und der Besuch des Weihnachtszirkusses eine Familientradition.

Begeistert haben wir die atemberaubenden Stunts und akrobatischen Leistungen mit glänzenden Augen bestaunt und mit frenetischem Beifall belohnt. Hübsche Menschen in farbenfrohen und phantasievollen Kostümen, sportliche Höchstleistungen, eine fröhliche Atmosphäre, gut gelaunte Zuschauer und bunte Weihnachtsdekorationen. Ein Highlight zum Jahresende.

Nachdem wir Zuhause begeistert berichtet und unsere Fotos betrachtet hatten, kam dann plötzlich die Frage auf: war das eigentlich Zirkus? Artisten, Akrobatik,Musik und Gesang, Clownerie, Show- aber keine Tiere!

Ja, keine Sorge: ich finde es richtig, dass Tieren qualvolle Dressuren und unnätürliche Haltungsbedingungen nicht mehr ertragen müssen. Mein Verstand sagt mir, dass das Tierwohl den Verzicht auf Tiere im Zirkus gebietet.


Aber mein Herz blüht auf, wenn ich an die Zirkusbesuche in meiner Kindheit denke und wie aufregend es war, wenn ein Zirkus in die Stadt kam. Wir wohnten in der Nähe des Güterbahnhofes und kamen schon in den Genuss des Zirkusses bevor das Gastspiel begann. Nicht nur wurden die bunten Zirkuswagen verladen und fuhren durch die Straßen. Nein, auch die Tiere kamen per Güterzug an und wurden dann direkt an unserem Haus vorbei zum Schützenplatz geführt, auf dem bereits emsig das bunte, riesige Zurkuszelt aufgebaut wurde. So zog also eine Karawane von Pferden, Kamelen, Tigern und Löwen in Käfigwagen und sogar Elefanten an unserem Gartenzaun vorbei. Für uns Kinder ein echtes Abenteuer. Später konnte man dann die "Tierschau" für eine Mark besuchen und all die wunderbaren Tier von Nahem sehen.

Getoppt werden konnte dieses Großereignis nur, wenn dann auch noch Tiere ausrissen. So kann ich mich erinnern, dass eines Tages, als die Karawane sich auf unser Haus zubewegte, die Kamele irgendwie erschreckt wurden und eine Stampede entstand. Wie wild geworden rasten die Tiere die Straße hinunter und eine Nachbarin, die aus ihrem nach außen zu öffnenden Fenster blickte, wurde verletzt als ein Kamel so dicht an Haus entlang raste, dass es gegen den Fensterflügel stieß und dieser der Nachbarin ins Gesicht schlug. Ein anderes Mal wurde ein Elefant aggressiv, befreite sich von den Fesseln und tobte durch die Straßen, bevor er sich abregte und wieder eingefangen werden konnte. Das waren Abenteuer der Höchstklasse in meiner Kindheit. 

Und dann die Zirkusvorstellung selbst. Auf die noch nicht von zig Fernsehkanälen und digitalen Medien verdorbenen Kinderaugen wirkten die Tierdressuren, insbesondere die der Raubkatzen, wie eine Abenteuerreise in ferne Länder. Pure Magie, wenn der Dompteur die fauchenden und mit den Pfoten schlagenden Großkatzen "bezwang" und ihnen seinen Willen aufnötigte. Kein Gedanke daran, wie sich die Tiere fühlen mögen, minderte den Nervenkitzel. Und dann legt der Dompteur auch noch seinen Kopf in das riesige Maul eines Löwen! 

Mit solcher Naivität könnte ich natürlich heute keine Raubtiernummer mehr ansehen. Nach einem Afrikaurlaub sind sogar auch noch so sehr auf artgerechte Haltung ausgerichtete Zoos für mich kaum erträglich. Dieser Zauber aus der Kindheit wird also nur Erinnerung bleiben. Wildtiere im Zirkus sind auch für mich ein no-go.

Und dennoch fehlen mir im Zirkus heute die Tiere. Eine Pferdedressur, ohne gelenkbelastende und gefährliche Kunststücke, einfach nur mit Federdekoration und phantasievollem Zaumzeug, geführt von hübsch kostümierten Artisten. Oder eine Hundedressur! Millionen Menschen scheuchen ihre Fellnasen tagtäglich durch Agilty Parcoure, da muss doch auch eine Zirkusnummer erlaubt sein? Bestimmt ließe sich etwas finden, dass auch im Zirkus mit artgerechter Haltung und dem Tierwohl vereinbar wäre.

Ich liebe den Zirkus Roncalli, ich achte die Entscheidung auf Tierdressuren zu verzichten.

                                Aber ich vermisse Tiere im Zirkus, sie gehören einfach dazu.



Dienstag, 8. Juni 2021

Es gibt sie doch! Die guten Berliner!

Wenn man aus Hannover nach Berlin gezogen ist, fällt man so manches Mal vom Glauben ab. Wieviel Rücksichtslosigkeit, Frechheit und Dickfälligkeit hier so manches Mal an den Tag gelegt wird, das haut einen in Niedersachsen sozialisierten Menschen schon mal um. 

Erste Erfahrungen machte ich gleich mal als mir mein Portemonaie nach 3 Wochen in Berlin aus der Jackentasche geklaut wurde, mich ein Mann auf der Straße anbrüllte, warum ich so einen großen Hund in der Stadt hätte, Fahrradfahrer, die unerlaubterweise auf dem Gehweg rasten mich anpflaumten, weil ich nicht aus dem Weg sprang. Und schließlich ein Nachbar, der schon über Wochen in seiner Wohnung geschimpft und getobt hatte, zunächst mich mit einem Hammer, Steinen und Abfall beschmiss und dann seine ganze Wohnungseinrichtung auf die Straße schmiß. Nette Begegnungen hielten sich also eher in Grenzen.

Aber in den letzten Wochen habe ich sie kennengelernt: die guten Berliner ! Die scheinen einem vor allem dann zu begegnen, wenn man eine älter werdende, vergessliche Frau ist 😁

Die guten Berliner #1

An einem herrlichen Sonnentag, nach einem entspannten Spaziergang durch den wunderschönen Tiergarten holten wir uns vom Burger King ein paar Snacks und setzten uns zum Verzehr auf Parkbänke am Rande des Parks am romantischen Reflektionsbecken. Nach ausgiebigem Genuss entsorgten wir die Verpackungen und gingen zum Auto, als hinter mir eine Frauenstimme rief: " I think he has your bag!"

Noch wissen wir nicht, was sich
hier in 20 Min. abspielen wird
Als ich mich umdrehte wurde mir schlagartig klar: ich hatte meine Handtasche auf der Bank liegen lassen! Ein junges indisch aussehendes Ehepaar wies in Richtung Tiergarten und rief. "The one with the cap!" Da war die Panik schon in mir hochgestiegen: EC-Karte, Autopapiere, Personalausweis, Führerschein, Impfausweis, mein ganzes Plastikkartendasein war in dieser Tasche. Sofort war mein Alter vergessen, der Lokomotiven-Modus setzte ein, ich rannte dem Baseballcapträger hinterher und stellte ihn. Ein schmächtiges, altes Männchen, offenbar obdachlos oder kurz davor, gemäß seinem ungepflegten Zustand. "Sie haben meine Tasche mitgenommen!" behauptete ich. Er verneinte: "Nix Tasche!" Aber so leicht ließ ich mich nicht abwimmeln. Um mich zu überzeugen öffnete er eine Sportumhängetasche, kramte ein bisschen herum und zeigte mir einen leeren Teil der Tasche. Aber da hatte ich schon längst einen Teil des Umhängeriemens meiner Tasche entdeckt, den er zu verbergen versuchte. Ich entrieß dem Dieb die Tasche und ging mit Puls 150 und Adrenalinspiegel bis zum Anschlag zum Auto zurück, um mich bei den tollen jungen Leuten zu bedanken, die mich auf den Taschendiebstahl aufmerksam gemacht hatten.

Die guten Berliner #2

Wenig später war ich mit Tochter und Enkelchen unterwegs. Die beiden Youngsters auf Rollerblades und ich mit Hund zu Fuß. Wenig später war auch Enkelchen zu Fuß unterwegs und hatte die Blades gegen Sandalen getauscht. Im Bötzowviertel lockte ein Kaffeestand zum Verzehr und wir hockten uns auf ein Sitzbrett in der Sonne, um unsere Getränke zu genießen. Auf dem Heimweg kurz vorm Ziel fiel uns plötzlich auf: keiner von uns hatte darauf geachtet Enkelchens neue, teure Rollerblades mitzunehmen. Also nichts wie Endspurt zum Auto und schnell mit Pferdestärken zum Ort des Geschehens zurück. Wegen einer Baustelle konnte ich nicht direkt zum Kaffeeausschank fahren und ließ die jungen Leute zu Fuß weitergehen. Als ich sie dann nach einer Weile an der Straßenecke aufsammelte fiel mir als erstes auf: keine Blades! Aber auch keine unglücklichen Gesichter??? Aus gutem Grund, wie sich herausstellte. Jemand hatte die Blades an sich genommen und einen Zettel mit Adresse zum Abholen hinterlassen! Innerhalb kürzester Zeit hatte Enkelchen ihre Rollerblades wieder und war glücklich, während das kleine Mädchen in der Finderfamilie traurig war, denn es hatte gehofft, die Blades seien vielleicht doch "Zum Mitnehmen" auf die Straße gestellt worden, wie das in Berlin mit Sachen gemacht wird, die man nicht mehr braucht. Eine wirklich nette Familie hatte uns den Tag gerettet.

Der gute Berliner #3

Neulich morgens fand ich einen Brief im Postkasten: von Ecky mit einem Herzchen davor. Ja, ich kenne einen Ecky, aber der würde kaum ein Herzchen vor seinen Namen malen. Also machte ich den Brief mit Spannung auf. Und fand meinen Impfnachweis vor!!! Den hatte ich noch gar nicht vermisst. Ich glaube letztmalig hatte ich ihn beim Speisen im "Seeblick" vorgezeigt. Wahrscheinlich war er dort liegen geblieben und wurde mir per Post nachgeschickt. Auf Nachfrage stellte sich allerdings heraus, dass es dort weder einen Ecky gibt noch mir der Impfpass von dort nachgeschickt wurde. Schade, jetzt kann ich Ecki gar nicht danken dafür, dass er den wertvollen Pass mit zwei Coronaimpfnachweisen nicht vertickert hat. Wenn Du das hier liest, Ecki: Du bist bist super nett! Wenn mir das aufgemalte Herz auch ein wenig Sorge bereitet hat: ich danke Dir tausend Mal!

Und die Moral von den Geschichten? 

Berlin is the place to be - für Leute mit beginnendem Alzheimer!


Foto: <a href='https://de.freepik.com/fotos/wasser'>Wasser Foto erstellt von freepik - de.freepik.com</a>

Montag, 17. Mai 2021

Halbjude- die Kontinuität des Nazidenkens

   

Mein Leben lang habe ich meinen Vater als Halbjuden bezeichnet und meine Schwestern und mich als Vierteljüdinnen. Aus meinem Verständnis heraus, weil sein Vater jüdisch war und seine Mutter nicht. Warum aber wurde er nicht als „Halbkatholike“ bezeichnet, obwohl seine Mutter katholisch war? Da liegt der Hase begraben. Sicher: mit der Zuordnung zum jüdisch sein in Form der Bezeichnung Halbjude oder Vierteljude hat man sich direkt der Opferseite zugeordnet und sich von der „Täterabstammung“ distanziert. Bei genauer Betrachtung auch das fadenscheinig: Vater hat von 1939 bis 1942 in der Wehrmacht gedient. Den Frankreichfeldzug mitgemacht, und in diesem Zusammenhang gemäß heutiger Betrachtung sich sicherlich an Unrechtshandlungen beteiligt. Immerhin hat er aus Frankreich wertvolle Geschenke in die Heimat geschickt: Porzellan, schöne Stoffe etc. Wohl kaum vom mageren Soldatensold erworben.

Was also ist ein Halbjude und wie ordnet man ihn zu?

Zum ersten Mal bin ich darauf gestoßen, dass wohl eine andere Ideologie hinter der Bezeichnung steckt, als das was ich immer dachte, als ich meinen Vater und seine erste Tochter in den Unterlagen der Volkszählung von 1939 fand. Bei meinem Vater war unter „Rasse“ das Kürzel JJ/NN verzeichnet, bei meiner Schwester JN/NN. Also konnte es hier nicht um die Abstammung vom Vater gehen, sonst wäre es ja J/N bei beiden gewesen.

Die Nationalsozialisten fokussierten sich auf die Juden als Staatsfeinde und Parasiten der Gesellschaft und strebten deren Vernichtung an. Wie aber sollte man einen Juden definieren, um ihn selektieren und als Feind kenntlich machen zu können? In Deutschland lebende Juden waren in aller Regel „Reichsdeutsche“. Sie hatten einen Platz in der Gesellschaft, waren etabliert, brachten Geistesgrößen, Musiktalente, erfolgreiche Unternehmer hervor und befruchteten die kulturelle Szene. Sie waren Teil des Alltagslebens, der Arbeitswelt und des sozialen Umfelds. Man konnte sie nicht anhand ihres Aussehens selektieren, große Nasen und dunkle Haare kommen in allen Volksgruppen vor, wie sich unschwer an etlichen Nazis erkennen lässt, denken wir an Hitler selbst oder an seinen Adlatus Göbbels. Ebenso sind Blauäugigkeit und blondes Haar bei jüdischen Menschen zu beobachten. Rassisch ließ sich also eine Zugehörigkeit nicht festlegen. Ein Problem größeren Ausmaßes für die Nationalsozialisten, mit dem sich höchste Kreise und eine Vielzahl von Behörden und Vordenkern beschäftigten. Die Lösung war dann, was im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze die nun festgelegten Diskriminierungen, Progrome, Entrechtungen und Verfolgungen rechtfertigte: die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion! Was aber, wenn die betreffenden Personen sich vom jüdischen Glauben lösen würden, sich taufen ließen? Um dieses Problem zu umgehen, hatten sich die Nazis eine besondere Wendung ausgedacht: die religiöse Zugehörigkeit der Großeltern sollte entscheiden, wer und zu welchem Grad er Jude ist! Die Großeltern waren meist schon verstorben oder würden kaum ihren Glauben aufgeben. Die Möglichkeiten sich dem „Judenstempel“ zu entziehen waren damit gering.

Hatte jemand also vier Großeltern jüdischen Glaubens, so wurde er als Volljude bezeichnet (JJ/JJ). Waren drei Großeltern jüdisch war man Dreivierteljude (JJ/JN) und bei zwei jüdischen Großeltern Halbjude (JJ/NN) usw.

Die sog. Mischlinge, die Halbjuden, waren Wesen zwischen Baum und Borke und bereiteten den Nazis Kopfzerbrechen. In ihnen floss arisches Blut, sie hatten arische Mütter, Väter, Großeltern. Sie in gleicher Weise zu misshandeln, wie die sog. Volljuden könnte Widerstand in der Bevölkerung entstehen lassen. So gab es zwar auch für sie in gewissem Maße ab 1935 Einschränkungen und Entrechtungen, wie beispielsweise ein Verbot arische Partner zu heiraten, bestimmte Berufe zu ergreifen oder beizubehalten etc. Sie hatten aber das fragwürdige Privileg in den Wehrdienst eingezogen zu werden, arbeiten zu gehen und ihre Wohnungen behalten und bei ihren arischen Ehepartnern bleiben zu dürfen. Sie entgingen dem Arbeitsdienst und der Gefangennahme. Erst ab 1940 „durften“ sie nicht mehr Soldat sein und ab 1942 mit der Entscheidung über die „Endlösung“ waren auch sie in Lebensgefahr.

Wenn wir also heute die Bezeichnungen „Halbjude“ oder "Vierteljude" etc. verwenden, so setzen wir damit eine Klassifizierung fort, die sich die Nationalsozialisten ausgedacht haben, um ihr Vernichtungswerk administrativ und logistisch wirksam und erfolgreich durchzuführen. Die aber jeder Vernunft und Wissenschaft entgegensteht. Ahnungslos benutzen auch heute noch intellektuelle, liberale und aufgeklärte Menschen diese Termini und setzen damit unwissentlich die ungerechtfertigte und stigmatisierende Kategorisierung fort.

Mitnichten kann und werde ich mich also zukünftig als Vierteljüdin bezeichnen!

Mein Vater war kein Halbjude sondern ein deutscher Katholik mit einem jüdischen Vater, der von dem Staat in dem er lebte und für den er in den Krieg gezogen ist, zu etwas gemacht wurde, was gar nicht existiert. Einzig und allein, um den Rassen- und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten möglich zu machen.

Aber dennoch, es gibt sie, eine ethnische Zuordnung. Das Ergebnis meines DNA Testes weist mich zu 14,4% als Aschkenasische Jüdin aus. Ich trage also Erbteile der Juden in mir, die im frühen Mittelalter die Alpen überquerten und in Nord- und Mitteleuropa siedelten. Aufgrund von Progromen, Kriegen und Vertreibungen führte die Siedlungsbewegung weiter nach Ost- und Südosteuropa, wo sich große jüdische Gemeinden bildeten und woher auch meine Urgroßeltern und Großeltern stammen. Durch die jahrhunderte alte Tradition der Endogamie (d.h. Verheiratung nur zwischen Angehörigen der eigenen Volks-/ Religionsgruppe) haben sich die genetischen Merkmale bis heute deutlich nachweisbar erhalten. Betrachte ich meine DNA Matches, d.h. die von MyHeritage herausgefilterten Personen, die einen gewissen Anteil genetischer Übereinstimmung mit mir haben, dann bin ich mit 1000en aschkenasischen Personen vor allem in den USA aber auch in aller Welt im 3.-5. Cousinengrad verwandt.

Eine ethnische Zuordnung jüdischer Herkunft ist also genetisch möglich. Seien wir froh, dass die Nationalsozialisten das nicht wussten. Und seien wir uns alle bewusst: es gibt sie nicht "die" Biodeutschen, "die" Schwarzen, "die" Juden. Wir alle sind eine bunte Mischung aus allerhand ethnischen Gruppen und genetischen Mischungen. Und die Genetik zeigt uns auch, dass nichts 1:1 an die Kinder weitergegeben wird. Jeder ererbt eine bunte Mischung zusammengewürfelter Gene von Vater und Mutter und den Vorfahren und bildet sein ganz persönliches, wunderbares Genom. Selbst bei jedem Geschwister kommt eine andere und ganz eigene Mischung zustande.

Wir sind also alle ganz unterschiedlich und in dieser Unterschiedlichkeit alle gleich.

Und ich bin eine Person mit askenasischem Hintergrund.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Morbus Corona- die Corona Lähme

Vor 9 Monaten war ich zum letzten Mal im Kino. Corona war noch neu und wir hatten keinen Schimmer davon, wie das weitere Jahr 2020 verlaufen würde.

Nun haben wir dieses annus horribilis bald hinter uns gebracht. Obwohl ich seit erwähntem März nicht nur nicht im Kino war, sondern auch einen geplanten Österreichurlaub mit der Familie absagen musste, kein einziges Livekonzert mehr erleben durfte, mein erster Besuch der Bayreuther Festspiele ausfiel, es mir nicht gelungen ist, Eintrittskarten für die wenigen stattfindenden Ausstellungen zu ergattern und unser Sohn seine Hochzeit absagen musste (!), ist es mir über den Sommer hin bis in den Herbst hinein gelungen, mich bei Laune zu halten. Für die Maßnahmen der Regierung habe ich Verständnis aufgebracht und mich nicht meiner Freiheit beraubt gesehen. Das Maske tragen ist mir nur marginal und aushaltbar unangenehm. Auf langen Wanderungen mit meinem Hund, z.T. mit (der erlaubten) netten Begleitung, habe ich viel neues in Berlin und umzu kennengelernt. Der Bücherbaum in unserer Nachbarschaft hat es mir erlaubt, kostenfrei viele Bücher zu lesen und die viele freie Zeit zu füllen. Ein paar Kurzurlaube innerhalb Deutschlands haben mir ein Wiedersehen mit Freunden und schöne Erlebnisse beschert. Mit meinem Mann bin ich 24/7 in unserer kleinen Wohnung zusammen, ohne dass es zu Erschütterungen unserer Beziehung gekommen wäre.

Dem Grunde nach habe ich keinen Anlass zu klagen. 

Die im Herbst rasant ansteigenden Infektions- und Todeszahlen sickerten aber auch bei mir langsam ein und begannen mir ein diffuses Unwohlsein zu verursachen. Den jetzigen zweiten Lockdown habe ich schon beinahe herbeigesehnt und auf jeden Fall begrüßt. Ich stelle mich darauf ein, dass das eingefrorene Leben noch mindesten bis zum Frühjahr Bestand haben wird. Und dass nach Weihnachten wegen unvermindert ansteigender Infektionen eine Ausgangssperre verhängt wird. 

Hat diese Pandemie mit allen ihren Begleiterscheinungen mich also gar nicht betroffen/ beeinträchtigt?

Doch, mein Leben hat sich nicht nur äußerlich verändert. Auch ich bin nicht mehr die Gleiche. Heute schreibe ich hier seit Monaten das erste Mal. Wo ich doch so gern und begeistert geschrieben habe. Mein Buchprojekt habe ich ebenfalls seit Monaten nicht weiterverfolgt. Die feste Überzeugung, dass mir nichts einfallen wird und ich nicht vorankommen werde, hält mich davon ab, das Manuskript wieder in die Hand zunehmen. Hatte ich bisher immer den missionarischen Eifer, nach der Lektüre eines guten Buches mit einer Rezension in meinem Blog Freunde und andere für den Lesestoff zu begeistern, lese ich jetzt ein Buch nach dem anderen und weiß selbst nach kurzer Zeit schon nicht mehr, wovon die handelten.

Und überhaupt: das Leben ohne Termine, ohne geplante Unternehmungen, mit wenigen Verabredungen und Vorhaben verliert so sehr an Struktur, ist so gleichförmig, dass ich die wenigen Aktiivitäten, die vor mir liegen, am Ende vergesse. 

Vergesslichkeit! Okay, stimmt, das war schon immer eine meiner Schwächen. Schon manche skurrile Situation in meinem Leben ist ihr geschuldet. Aber die jetzige Dimension der Vergesslichkeit ist doch auffällig. Erst als Hundi sein Häufchen unterwegs machte fiel mir auf: nicht nur die Beutel vergessen, sondern gleich die ganze Tasche mit Schlüsseln, Telefon und Maske etc. Wem habe ich jetzt eigentlich schon eine Weihnachtskarte geschickt? Kein Plan. Die wenigen Termine (Friseur, Zahnarzt): vergessen!

Für mich ein klarer Fall von Morbus Corona, zu deutsch Corona-Lähme. Ich hoffe, dass wir in 2021 sowohl Corona als auch die Folgesymptome des Lockdowns hinter uns gebracht haben und meine Lähme geheilt wird. Für mich soll es das Jahr des Erinnerns und der Umarmungen werden 💡 ❤


Sonntag, 12. April 2020

Was übrig bleibt- oder ein Ende im Müllcontainer

Neulich wollte ich eine Besorgung machen und beobachtete vor unserem Haus eine Frau, die aus einem am Straßenrand aufgestellten Müllcontainer einige Bücher herausgefischt hatte. Oh- vielleicht war ja ein Buch dabei, dass nach mir rief! Mir setzte fast das Herz aus, als ich dann vor dem Container stand. Es waren nicht etwa einige Bücher im Müll gelandet: der ganze Container war voller Bücher!!! Einbände, z.T. noch eingeschweißt und mit Preisschildern, Bildbände, noch neu verpackte Ausgaben des "Kulturforum", Karten von Berlin und Umgebung und ... und ... und.
Thematisch eine bunte Mischung: Sachbücher über Kunst, Kultur, Geschichte, Politik, Digitale Medien; Bücher von Aust, Harpprecht, Precht, Richter uvm.; Romane von Wolfe, Ruiz Zafón, Le Carre, Mann, Evers und anderen; Biografien über Brecht, Dietrich, Schneider bis Müller-Stahl und Willemsen.

Was für ein Frevel, Bücher in den Müll zu schmeißen! Während ich noch fassungslos in den Mengen wühlte kamen zwei junge Männer und brachten weitere Kisten mit Büchern, die hinzugeschüttet wurden. Auf die entsetzte Frage, wer denn um Himmels Willen Bücher wegschmeißt erklärten sie, dass ein Bekannter gestorben sei und dieses NUR die unverkäuflichen Reste!!! seiner Bücher seien.



Schließlich trug ich gute Beute nach Haus und sinnierte darüber, was für ein Mensch der Verstorbene wohl gewesen war. Warum hatte er so unendlich viele Bücher gesammelt? Hat er sich für irgendein Thema wirklich interessiert? Die Bandbreite der Themen ließ keinerlei Rückschluss zu. War hier ein Horter verstorben? Hatte er zwanghaft Bücher und Printprodukte gekauft, wahllos und ohne Chance die schiere Menge an Lesematerial je bewältigen zu können?

Eine Internetrecherche brachte etwas Licht ins Dunkel. Die auf einigen Buchrücken genannte Adresse führte zu Robert Schmitt. Er wohnte nur zwei Häuser neben uns, aber niemals habe ich den unscheinbaren Mann wahrgenommen. 2017 hatte der Künstler Gegor Hildebrandt den Sammler auf dessen Einladung hin besucht und den Vorschlag entwickelt, die unendliche Sammlung von Zeitschriften und Zeitungen, die sich in der Wohnung stapelten, als Installation auszustellen. Für ihn waren die Türme von Druckerzeugnissen kein Abfall sondern eine lebendige, philosophische Skulptur.  Hildebrandt war so fasziniert, dass er das Material als rohen Inhalt einer künstlerischen Konzeptarbeit erkannte und in seiner Galerie in Berlin ausstellte.

Robert Schmitt beschreibt den Zeitpunkt, an dem es zu diesem Treffen mit Hildebrandt kam, in einem Interview als: "... eine Periode persönlicher, psychischer und organisatorischer Transformation... Stapel von Druckerzeugnissen hatten sich aufgetürmt: Zeitungen, Magazine und Bücher." (Interview siehe unten)

Hier erklärt sich also die Flut von Büchern, die schließlich im Container landeten. Offensichtlich hatte Schmitt zwanghaft eingekauft und gesammelt, und irgendwann den Überblick verloren. Bezeichnenderweise hatte er seine Ausstellung "I paid for content and I´m proud of" ("Ich hab für Inhalt bezahlt und bin stolz drauf").

Am Ende landete das, worauf er stolz war, in einem Müllcontainer. Ein trauriges Ende- des Lebens von Robert Schmitt und des bezahlten Inhalts.

Gottseidank fanden sich im Laufe der letzten Tage immer wieder Inhaltsretter, die wenigstens einem Teil der Bücher ein neues Leben ermöglichen und sie in den Kreislauf zurückführen. Der Inhalt macht vielleicht nun jemand anderen stolz.

Die Frage ist: Was bleibt, wenn wir gehen?

Interview mit Robert Schmitt- ArtNews, 2018