Freitag, 4. Oktober 2019

Berliner Schnauze- oder einfach nur rotzfrech?

Nun ist der Norddeutsche nicht gerade für seine Fröhlichkeit und Zugewandtheit bekannt. Eher kühl und unaufgeregt kommt er daher und braucht ein Weilchen, bis er mit Fremden warm wird. Im Gegensatz zu Rheinländern und anderen Süddeutschen sucht er im Restaurant nach einem leeren Tisch und käme nie auf die Idee, sich zu anderen Gästen zu setzen. Da verlässt man eher den gastlichen Ort und sucht woanders freie Plätze.

Was ich erst nach meinem Umzug nach Berlin realisiert habe: der Norddeutsche ist ein überaus freundlicher und höflicher Mensch!

Der raue Umgangston in Berlin war für mich der größte Kulturschock, als ich in die große Stadt kam. Noch nie bin ich in meinem beschaulichen hannoverschen Leben im öffentlichen Straßenraum so oft angeranzt worden wie in Berlin. Niemals zuvor wurde ich so häufig angerempelt. Ja, ahnungslos die Straße entlang spazierend wurde ich plötzlich von einem Mann angebrüllt, der meinte ich dürfe auf keinen Fall meinen großen Hund in der Stadt halten und mir dieses aggressiv und lautstark entgegen schrie.  Der Berliner hat insgesamt eine sehr individuelle Vorstellung davon was rechtens ist und ist bereit sein vermeintliches Recht sofort und mit allen Mitteln durchzusetzen. Bestes Beispiel dafür sind die hiesigen Fahrradfahrer. Sie haben auf der Straße, auf dem Fahrradweg und auf dem Bürgersteig uneingeschränktes Vorfahrtrecht. Wer nicht beiseite springt, wenn der berliner Radfahrer von seinem Recht gebraucht macht grundsätzlich mit Höchstgeschwindigkeit dem Ziel entgegen zu sausen, der läuft Gefahr gnadenlos umgefahren zu werden. Da spielt es keine Rolle, ob man alt oder jung, Kind oder Hund ist.

Wie schön war es auch, dass in der alten Heimat die Fahrradfahrer geklingelt haben, wenn sie sich einem von hinten nähern! In Berlin gehst Du seelenruhig auf dem Bürgersteig und erschrickst zu Tode, weil Du plötzlich eine Bewegung in Deinem Rücken spürst. Bevor Du den Schreck überwunden hast ist der Sprinter schon längst auf und davon und an Dir vorbeigezischt.

Aber nicht nur die Fahrradfahrer zeichnen sich durch mangelnde Rücksichtnahme und null Benimm aus. Morgens beim Bäcker ein fröhliches "Guten Morgen"? Vergiss es. Beiseite treten um jemanden durchzulassen, wenn man selbst den Gehweg versperrt? Pffffhhh. Freundlich darum bitten das jemand beiseite tritt? Nee, wegbrüllen ist angesagt. Auf die nächste Bahn warten (4-Minuten-Takt!!!) wenn der Wagen schon rappelvoll ist? Ha, ha, reinquetschen und die anderen anmeiern, die nicht wissen, wo sie hintreten sollen, um den Rüpel mitfahren zu lassen.

Hier eines meiner (harmlosen) ersten Erlebnisse der Berliner Art:

In der Nähe der Wohnung meiner Tochter hatte ich einen kleinen Friseurladen entdeckt und kam auf die Idee, mir die Haare machen zu lassen. Als ich auf den Laden zukam, lehnte eine Frau im Türrahmen, versperrte den Zugang und paffte eine Zigarette. Am Ziel angekommen stand ich vor ihr. Verdattert stand ich da, denn sie machte nicht, wie erwartet für mich Platz. " Öh, entschuldigen Sie, ich würde da gern reingehen!" "Na, denn jehn se doch!" Also quetschte ich mich an ihr vorbei in den Laden. Niemand da! Nachdem ich ein paar Sekunden ratlos im Raum stand, trat die Frau im Türrahmen die Zigarette aus und kam in den Laden. Es war die Besitzerin! In Niedersachsen wäre dieser Laden mangels Kundinnen längst pleite gegangen.

Der Fairness halber muss ich sagen, dass sich die Friseurin als nette Gesprächspartnerin entpuppte und ich einen angenehmen Aufenthalt mit einem haar-technisch guten Endergebnis hatte.

So wird es wohl wie immer im Leben sein: es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Man kann annehmen, dass auch bei den Kamikaze-Radfahrern der eine oder andere nette Mensch dabei ist. Und auch die Brüller und Rempler ihre netten Seiten haben.

Der Begriff  "Berliner Schnauze" hat sich mir eingebrannt, als ich noch Kind war und meine Eltern  (und ich mit ihnen) besonders gern diese Spezies im Fernsehen ansahen. Wolfgang Gruner, ein Kabarettist und Komödiant, der mit Berliner Dialekt  als penetrante Quasselstrippe und Schnellredner das Publikum zum Lachen brachte ebenso wie der liebenswerte Suffkopp Harald Juhnke waren für mich Paradebeispiele mit original Berliner Schnauze. Als weibliche Pedants standen ihnen Edith Hanke und Brigitte Mira in nichts nach. Berlinerisch gerade heraus reden, ehrlich auf den Punkt bringen und auch mal frech antworten und ein bisschen übertreiben. Den Gesprächspartner einfach zuquatschen. Das war meine Vorstellung von Berliner Schnauze. Im Verhältnis zum allgemeinen Umgangston heutzutage und dessen Zuspitzung in Berlin war das damals geradezu liebenswert und harmlos. 

Es bleibt offen, wie es zur Verrohung des Berliners und seiner Schnauze kam. Waren es die eingewanderten Schwaben? Hat es mit dem Klimawandel zu tun? Sind es Folgen des Wendefrusts? Ist es eine Metropolstimmung? Oder geht es dem Berliner wie den Hassern im Internet: die Anonymität im großen Netz der Stadt lässt die Schranken fallen und man traut sich alles rauszuhauen, was einem einfällt.

Ich weiß nur eines: hier kann ich sein, hier kann ich bleiben! Denn die Berliner gestehen auch anderen zu, ihre Meinung für die einzig richtige zu halten und sind grandios tolerant. Hier unangenehm aufzufallen ist eine Kunst. Noch immer gilt hier das Motto des Alten Fritz: es kann jeder nach seiner Fasson glücklich werden! Also nehme ich die Berliner so wie sie sind und freue mich, dass ich hier sein kann wie ich bin. QUID PRO QUO!