Mittwoch, 23. Dezember 2020

Morbus Corona- die Corona Lähme

Vor 9 Monaten war ich zum letzten Mal im Kino. Corona war noch neu und wir hatten keinen Schimmer davon, wie das weitere Jahr 2020 verlaufen würde.

Nun haben wir dieses annus horribilis bald hinter uns gebracht. Obwohl ich seit erwähntem März nicht nur nicht im Kino war, sondern auch einen geplanten Österreichurlaub mit der Familie absagen musste, kein einziges Livekonzert mehr erleben durfte, mein erster Besuch der Bayreuther Festspiele ausfiel, es mir nicht gelungen ist, Eintrittskarten für die wenigen stattfindenden Ausstellungen zu ergattern und unser Sohn seine Hochzeit absagen musste (!), ist es mir über den Sommer hin bis in den Herbst hinein gelungen, mich bei Laune zu halten. Für die Maßnahmen der Regierung habe ich Verständnis aufgebracht und mich nicht meiner Freiheit beraubt gesehen. Das Maske tragen ist mir nur marginal und aushaltbar unangenehm. Auf langen Wanderungen mit meinem Hund, z.T. mit (der erlaubten) netten Begleitung, habe ich viel neues in Berlin und umzu kennengelernt. Der Bücherbaum in unserer Nachbarschaft hat es mir erlaubt, kostenfrei viele Bücher zu lesen und die viele freie Zeit zu füllen. Ein paar Kurzurlaube innerhalb Deutschlands haben mir ein Wiedersehen mit Freunden und schöne Erlebnisse beschert. Mit meinem Mann bin ich 24/7 in unserer kleinen Wohnung zusammen, ohne dass es zu Erschütterungen unserer Beziehung gekommen wäre.

Dem Grunde nach habe ich keinen Anlass zu klagen. 

Die im Herbst rasant ansteigenden Infektions- und Todeszahlen sickerten aber auch bei mir langsam ein und begannen mir ein diffuses Unwohlsein zu verursachen. Den jetzigen zweiten Lockdown habe ich schon beinahe herbeigesehnt und auf jeden Fall begrüßt. Ich stelle mich darauf ein, dass das eingefrorene Leben noch mindesten bis zum Frühjahr Bestand haben wird. Und dass nach Weihnachten wegen unvermindert ansteigender Infektionen eine Ausgangssperre verhängt wird. 

Hat diese Pandemie mit allen ihren Begleiterscheinungen mich also gar nicht betroffen/ beeinträchtigt?

Doch, mein Leben hat sich nicht nur äußerlich verändert. Auch ich bin nicht mehr die Gleiche. Heute schreibe ich hier seit Monaten das erste Mal. Wo ich doch so gern und begeistert geschrieben habe. Mein Buchprojekt habe ich ebenfalls seit Monaten nicht weiterverfolgt. Die feste Überzeugung, dass mir nichts einfallen wird und ich nicht vorankommen werde, hält mich davon ab, das Manuskript wieder in die Hand zunehmen. Hatte ich bisher immer den missionarischen Eifer, nach der Lektüre eines guten Buches mit einer Rezension in meinem Blog Freunde und andere für den Lesestoff zu begeistern, lese ich jetzt ein Buch nach dem anderen und weiß selbst nach kurzer Zeit schon nicht mehr, wovon die handelten.

Und überhaupt: das Leben ohne Termine, ohne geplante Unternehmungen, mit wenigen Verabredungen und Vorhaben verliert so sehr an Struktur, ist so gleichförmig, dass ich die wenigen Aktiivitäten, die vor mir liegen, am Ende vergesse. 

Vergesslichkeit! Okay, stimmt, das war schon immer eine meiner Schwächen. Schon manche skurrile Situation in meinem Leben ist ihr geschuldet. Aber die jetzige Dimension der Vergesslichkeit ist doch auffällig. Erst als Hundi sein Häufchen unterwegs machte fiel mir auf: nicht nur die Beutel vergessen, sondern gleich die ganze Tasche mit Schlüsseln, Telefon und Maske etc. Wem habe ich jetzt eigentlich schon eine Weihnachtskarte geschickt? Kein Plan. Die wenigen Termine (Friseur, Zahnarzt): vergessen!

Für mich ein klarer Fall von Morbus Corona, zu deutsch Corona-Lähme. Ich hoffe, dass wir in 2021 sowohl Corona als auch die Folgesymptome des Lockdowns hinter uns gebracht haben und meine Lähme geheilt wird. Für mich soll es das Jahr des Erinnerns und der Umarmungen werden 💡 ❤


Sonntag, 12. April 2020

Was übrig bleibt- oder ein Ende im Müllcontainer

Neulich wollte ich eine Besorgung machen und beobachtete vor unserem Haus eine Frau, die aus einem am Straßenrand aufgestellten Müllcontainer einige Bücher herausgefischt hatte. Oh- vielleicht war ja ein Buch dabei, dass nach mir rief! Mir setzte fast das Herz aus, als ich dann vor dem Container stand. Es waren nicht etwa einige Bücher im Müll gelandet: der ganze Container war voller Bücher!!! Einbände, z.T. noch eingeschweißt und mit Preisschildern, Bildbände, noch neu verpackte Ausgaben des "Kulturforum", Karten von Berlin und Umgebung und ... und ... und.
Thematisch eine bunte Mischung: Sachbücher über Kunst, Kultur, Geschichte, Politik, Digitale Medien; Bücher von Aust, Harpprecht, Precht, Richter uvm.; Romane von Wolfe, Ruiz Zafón, Le Carre, Mann, Evers und anderen; Biografien über Brecht, Dietrich, Schneider bis Müller-Stahl und Willemsen.

Was für ein Frevel, Bücher in den Müll zu schmeißen! Während ich noch fassungslos in den Mengen wühlte kamen zwei junge Männer und brachten weitere Kisten mit Büchern, die hinzugeschüttet wurden. Auf die entsetzte Frage, wer denn um Himmels Willen Bücher wegschmeißt erklärten sie, dass ein Bekannter gestorben sei und dieses NUR die unverkäuflichen Reste!!! seiner Bücher seien.



Schließlich trug ich gute Beute nach Haus und sinnierte darüber, was für ein Mensch der Verstorbene wohl gewesen war. Warum hatte er so unendlich viele Bücher gesammelt? Hat er sich für irgendein Thema wirklich interessiert? Die Bandbreite der Themen ließ keinerlei Rückschluss zu. War hier ein Horter verstorben? Hatte er zwanghaft Bücher und Printprodukte gekauft, wahllos und ohne Chance die schiere Menge an Lesematerial je bewältigen zu können?

Eine Internetrecherche brachte etwas Licht ins Dunkel. Die auf einigen Buchrücken genannte Adresse führte zu Robert Schmitt. Er wohnte nur zwei Häuser neben uns, aber niemals habe ich den unscheinbaren Mann wahrgenommen. 2017 hatte der Künstler Gegor Hildebrandt den Sammler auf dessen Einladung hin besucht und den Vorschlag entwickelt, die unendliche Sammlung von Zeitschriften und Zeitungen, die sich in der Wohnung stapelten, als Installation auszustellen. Für ihn waren die Türme von Druckerzeugnissen kein Abfall sondern eine lebendige, philosophische Skulptur.  Hildebrandt war so fasziniert, dass er das Material als rohen Inhalt einer künstlerischen Konzeptarbeit erkannte und in seiner Galerie in Berlin ausstellte.

Robert Schmitt beschreibt den Zeitpunkt, an dem es zu diesem Treffen mit Hildebrandt kam, in einem Interview als: "... eine Periode persönlicher, psychischer und organisatorischer Transformation... Stapel von Druckerzeugnissen hatten sich aufgetürmt: Zeitungen, Magazine und Bücher." (Interview siehe unten)

Hier erklärt sich also die Flut von Büchern, die schließlich im Container landeten. Offensichtlich hatte Schmitt zwanghaft eingekauft und gesammelt, und irgendwann den Überblick verloren. Bezeichnenderweise hatte er seine Ausstellung "I paid for content and I´m proud of" ("Ich hab für Inhalt bezahlt und bin stolz drauf").

Am Ende landete das, worauf er stolz war, in einem Müllcontainer. Ein trauriges Ende- des Lebens von Robert Schmitt und des bezahlten Inhalts.

Gottseidank fanden sich im Laufe der letzten Tage immer wieder Inhaltsretter, die wenigstens einem Teil der Bücher ein neues Leben ermöglichen und sie in den Kreislauf zurückführen. Der Inhalt macht vielleicht nun jemand anderen stolz.

Die Frage ist: Was bleibt, wenn wir gehen?

Interview mit Robert Schmitt- ArtNews, 2018