Sonntag, 12. April 2020

Was übrig bleibt- oder ein Ende im Müllcontainer

Neulich wollte ich eine Besorgung machen und beobachtete vor unserem Haus eine Frau, die aus einem am Straßenrand aufgestellten Müllcontainer einige Bücher herausgefischt hatte. Oh- vielleicht war ja ein Buch dabei, dass nach mir rief! Mir setzte fast das Herz aus, als ich dann vor dem Container stand. Es waren nicht etwa einige Bücher im Müll gelandet: der ganze Container war voller Bücher!!! Einbände, z.T. noch eingeschweißt und mit Preisschildern, Bildbände, noch neu verpackte Ausgaben des "Kulturforum", Karten von Berlin und Umgebung und ... und ... und.
Thematisch eine bunte Mischung: Sachbücher über Kunst, Kultur, Geschichte, Politik, Digitale Medien; Bücher von Aust, Harpprecht, Precht, Richter uvm.; Romane von Wolfe, Ruiz Zafón, Le Carre, Mann, Evers und anderen; Biografien über Brecht, Dietrich, Schneider bis Müller-Stahl und Willemsen.

Was für ein Frevel, Bücher in den Müll zu schmeißen! Während ich noch fassungslos in den Mengen wühlte kamen zwei junge Männer und brachten weitere Kisten mit Büchern, die hinzugeschüttet wurden. Auf die entsetzte Frage, wer denn um Himmels Willen Bücher wegschmeißt erklärten sie, dass ein Bekannter gestorben sei und dieses NUR die unverkäuflichen Reste!!! seiner Bücher seien.



Schließlich trug ich gute Beute nach Haus und sinnierte darüber, was für ein Mensch der Verstorbene wohl gewesen war. Warum hatte er so unendlich viele Bücher gesammelt? Hat er sich für irgendein Thema wirklich interessiert? Die Bandbreite der Themen ließ keinerlei Rückschluss zu. War hier ein Horter verstorben? Hatte er zwanghaft Bücher und Printprodukte gekauft, wahllos und ohne Chance die schiere Menge an Lesematerial je bewältigen zu können?

Eine Internetrecherche brachte etwas Licht ins Dunkel. Die auf einigen Buchrücken genannte Adresse führte zu Robert Schmitt. Er wohnte nur zwei Häuser neben uns, aber niemals habe ich den unscheinbaren Mann wahrgenommen. 2017 hatte der Künstler Gegor Hildebrandt den Sammler auf dessen Einladung hin besucht und den Vorschlag entwickelt, die unendliche Sammlung von Zeitschriften und Zeitungen, die sich in der Wohnung stapelten, als Installation auszustellen. Für ihn waren die Türme von Druckerzeugnissen kein Abfall sondern eine lebendige, philosophische Skulptur.  Hildebrandt war so fasziniert, dass er das Material als rohen Inhalt einer künstlerischen Konzeptarbeit erkannte und in seiner Galerie in Berlin ausstellte.

Robert Schmitt beschreibt den Zeitpunkt, an dem es zu diesem Treffen mit Hildebrandt kam, in einem Interview als: "... eine Periode persönlicher, psychischer und organisatorischer Transformation... Stapel von Druckerzeugnissen hatten sich aufgetürmt: Zeitungen, Magazine und Bücher." (Interview siehe unten)

Hier erklärt sich also die Flut von Büchern, die schließlich im Container landeten. Offensichtlich hatte Schmitt zwanghaft eingekauft und gesammelt, und irgendwann den Überblick verloren. Bezeichnenderweise hatte er seine Ausstellung "I paid for content and I´m proud of" ("Ich hab für Inhalt bezahlt und bin stolz drauf").

Am Ende landete das, worauf er stolz war, in einem Müllcontainer. Ein trauriges Ende- des Lebens von Robert Schmitt und des bezahlten Inhalts.

Gottseidank fanden sich im Laufe der letzten Tage immer wieder Inhaltsretter, die wenigstens einem Teil der Bücher ein neues Leben ermöglichen und sie in den Kreislauf zurückführen. Der Inhalt macht vielleicht nun jemand anderen stolz.

Die Frage ist: Was bleibt, wenn wir gehen?

Interview mit Robert Schmitt- ArtNews, 2018