Dienstag, 8. Juni 2021

Es gibt sie doch! Die guten Berliner!

Wenn man aus Hannover nach Berlin gezogen ist, fällt man so manches Mal vom Glauben ab. Wieviel Rücksichtslosigkeit, Frechheit und Dickfälligkeit hier so manches Mal an den Tag gelegt wird, das haut einen in Niedersachsen sozialisierten Menschen schon mal um. 

Erste Erfahrungen machte ich gleich mal als mir mein Portemonaie nach 3 Wochen in Berlin aus der Jackentasche geklaut wurde, mich ein Mann auf der Straße anbrüllte, warum ich so einen großen Hund in der Stadt hätte, Fahrradfahrer, die unerlaubterweise auf dem Gehweg rasten mich anpflaumten, weil ich nicht aus dem Weg sprang. Und schließlich ein Nachbar, der schon über Wochen in seiner Wohnung geschimpft und getobt hatte, zunächst mich mit einem Hammer, Steinen und Abfall beschmiss und dann seine ganze Wohnungseinrichtung auf die Straße schmiß. Nette Begegnungen hielten sich also eher in Grenzen.

Aber in den letzten Wochen habe ich sie kennengelernt: die guten Berliner ! Die scheinen einem vor allem dann zu begegnen, wenn man eine älter werdende, vergessliche Frau ist 😁

Die guten Berliner #1

An einem herrlichen Sonnentag, nach einem entspannten Spaziergang durch den wunderschönen Tiergarten holten wir uns vom Burger King ein paar Snacks und setzten uns zum Verzehr auf Parkbänke am Rande des Parks am romantischen Reflektionsbecken. Nach ausgiebigem Genuss entsorgten wir die Verpackungen und gingen zum Auto, als hinter mir eine Frauenstimme rief: " I think he has your bag!"

Noch wissen wir nicht, was sich
hier in 20 Min. abspielen wird
Als ich mich umdrehte wurde mir schlagartig klar: ich hatte meine Handtasche auf der Bank liegen lassen! Ein junges indisch aussehendes Ehepaar wies in Richtung Tiergarten und rief. "The one with the cap!" Da war die Panik schon in mir hochgestiegen: EC-Karte, Autopapiere, Personalausweis, Führerschein, Impfausweis, mein ganzes Plastikkartendasein war in dieser Tasche. Sofort war mein Alter vergessen, der Lokomotiven-Modus setzte ein, ich rannte dem Baseballcapträger hinterher und stellte ihn. Ein schmächtiges, altes Männchen, offenbar obdachlos oder kurz davor, gemäß seinem ungepflegten Zustand. "Sie haben meine Tasche mitgenommen!" behauptete ich. Er verneinte: "Nix Tasche!" Aber so leicht ließ ich mich nicht abwimmeln. Um mich zu überzeugen öffnete er eine Sportumhängetasche, kramte ein bisschen herum und zeigte mir einen leeren Teil der Tasche. Aber da hatte ich schon längst einen Teil des Umhängeriemens meiner Tasche entdeckt, den er zu verbergen versuchte. Ich entrieß dem Dieb die Tasche und ging mit Puls 150 und Adrenalinspiegel bis zum Anschlag zum Auto zurück, um mich bei den tollen jungen Leuten zu bedanken, die mich auf den Taschendiebstahl aufmerksam gemacht hatten.

Die guten Berliner #2

Wenig später war ich mit Tochter und Enkelchen unterwegs. Die beiden Youngsters auf Rollerblades und ich mit Hund zu Fuß. Wenig später war auch Enkelchen zu Fuß unterwegs und hatte die Blades gegen Sandalen getauscht. Im Bötzowviertel lockte ein Kaffeestand zum Verzehr und wir hockten uns auf ein Sitzbrett in der Sonne, um unsere Getränke zu genießen. Auf dem Heimweg kurz vorm Ziel fiel uns plötzlich auf: keiner von uns hatte darauf geachtet Enkelchens neue, teure Rollerblades mitzunehmen. Also nichts wie Endspurt zum Auto und schnell mit Pferdestärken zum Ort des Geschehens zurück. Wegen einer Baustelle konnte ich nicht direkt zum Kaffeeausschank fahren und ließ die jungen Leute zu Fuß weitergehen. Als ich sie dann nach einer Weile an der Straßenecke aufsammelte fiel mir als erstes auf: keine Blades! Aber auch keine unglücklichen Gesichter??? Aus gutem Grund, wie sich herausstellte. Jemand hatte die Blades an sich genommen und einen Zettel mit Adresse zum Abholen hinterlassen! Innerhalb kürzester Zeit hatte Enkelchen ihre Rollerblades wieder und war glücklich, während das kleine Mädchen in der Finderfamilie traurig war, denn es hatte gehofft, die Blades seien vielleicht doch "Zum Mitnehmen" auf die Straße gestellt worden, wie das in Berlin mit Sachen gemacht wird, die man nicht mehr braucht. Eine wirklich nette Familie hatte uns den Tag gerettet.

Der gute Berliner #3

Neulich morgens fand ich einen Brief im Postkasten: von Ecky mit einem Herzchen davor. Ja, ich kenne einen Ecky, aber der würde kaum ein Herzchen vor seinen Namen malen. Also machte ich den Brief mit Spannung auf. Und fand meinen Impfnachweis vor!!! Den hatte ich noch gar nicht vermisst. Ich glaube letztmalig hatte ich ihn beim Speisen im "Seeblick" vorgezeigt. Wahrscheinlich war er dort liegen geblieben und wurde mir per Post nachgeschickt. Auf Nachfrage stellte sich allerdings heraus, dass es dort weder einen Ecky gibt noch mir der Impfpass von dort nachgeschickt wurde. Schade, jetzt kann ich Ecki gar nicht danken dafür, dass er den wertvollen Pass mit zwei Coronaimpfnachweisen nicht vertickert hat. Wenn Du das hier liest, Ecki: Du bist bist super nett! Wenn mir das aufgemalte Herz auch ein wenig Sorge bereitet hat: ich danke Dir tausend Mal!

Und die Moral von den Geschichten? 

Berlin is the place to be - für Leute mit beginnendem Alzheimer!


Foto: <a href='https://de.freepik.com/fotos/wasser'>Wasser Foto erstellt von freepik - de.freepik.com</a>

Montag, 17. Mai 2021

Halbjude- die Kontinuität des Nazidenkens

   

Mein Leben lang habe ich meinen Vater als Halbjuden bezeichnet und meine Schwestern und mich als Vierteljüdinnen. Aus meinem Verständnis heraus, weil sein Vater jüdisch war und seine Mutter nicht. Warum aber wurde er nicht als „Halbkatholike“ bezeichnet, obwohl seine Mutter katholisch war? Da liegt der Hase begraben. Sicher: mit der Zuordnung zum jüdisch sein in Form der Bezeichnung Halbjude oder Vierteljude hat man sich direkt der Opferseite zugeordnet und sich von der „Täterabstammung“ distanziert. Bei genauer Betrachtung auch das fadenscheinig: Vater hat von 1939 bis 1942 in der Wehrmacht gedient. Den Frankreichfeldzug mitgemacht, und in diesem Zusammenhang gemäß heutiger Betrachtung sich sicherlich an Unrechtshandlungen beteiligt. Immerhin hat er aus Frankreich wertvolle Geschenke in die Heimat geschickt: Porzellan, schöne Stoffe etc. Wohl kaum vom mageren Soldatensold erworben.

Was also ist ein Halbjude und wie ordnet man ihn zu?

Zum ersten Mal bin ich darauf gestoßen, dass wohl eine andere Ideologie hinter der Bezeichnung steckt, als das was ich immer dachte, als ich meinen Vater und seine erste Tochter in den Unterlagen der Volkszählung von 1939 fand. Bei meinem Vater war unter „Rasse“ das Kürzel JJ/NN verzeichnet, bei meiner Schwester JN/NN. Also konnte es hier nicht um die Abstammung vom Vater gehen, sonst wäre es ja J/N bei beiden gewesen.

Die Nationalsozialisten fokussierten sich auf die Juden als Staatsfeinde und Parasiten der Gesellschaft und strebten deren Vernichtung an. Wie aber sollte man einen Juden definieren, um ihn selektieren und als Feind kenntlich machen zu können? In Deutschland lebende Juden waren in aller Regel „Reichsdeutsche“. Sie hatten einen Platz in der Gesellschaft, waren etabliert, brachten Geistesgrößen, Musiktalente, erfolgreiche Unternehmer hervor und befruchteten die kulturelle Szene. Sie waren Teil des Alltagslebens, der Arbeitswelt und des sozialen Umfelds. Man konnte sie nicht anhand ihres Aussehens selektieren, große Nasen und dunkle Haare kommen in allen Volksgruppen vor, wie sich unschwer an etlichen Nazis erkennen lässt, denken wir an Hitler selbst oder an seinen Adlatus Göbbels. Ebenso sind Blauäugigkeit und blondes Haar bei jüdischen Menschen zu beobachten. Rassisch ließ sich also eine Zugehörigkeit nicht festlegen. Ein Problem größeren Ausmaßes für die Nationalsozialisten, mit dem sich höchste Kreise und eine Vielzahl von Behörden und Vordenkern beschäftigten. Die Lösung war dann, was im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze die nun festgelegten Diskriminierungen, Progrome, Entrechtungen und Verfolgungen rechtfertigte: die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion! Was aber, wenn die betreffenden Personen sich vom jüdischen Glauben lösen würden, sich taufen ließen? Um dieses Problem zu umgehen, hatten sich die Nazis eine besondere Wendung ausgedacht: die religiöse Zugehörigkeit der Großeltern sollte entscheiden, wer und zu welchem Grad er Jude ist! Die Großeltern waren meist schon verstorben oder würden kaum ihren Glauben aufgeben. Die Möglichkeiten sich dem „Judenstempel“ zu entziehen waren damit gering.

Hatte jemand also vier Großeltern jüdischen Glaubens, so wurde er als Volljude bezeichnet (JJ/JJ). Waren drei Großeltern jüdisch war man Dreivierteljude (JJ/JN) und bei zwei jüdischen Großeltern Halbjude (JJ/NN) usw.

Die sog. Mischlinge, die Halbjuden, waren Wesen zwischen Baum und Borke und bereiteten den Nazis Kopfzerbrechen. In ihnen floss arisches Blut, sie hatten arische Mütter, Väter, Großeltern. Sie in gleicher Weise zu misshandeln, wie die sog. Volljuden könnte Widerstand in der Bevölkerung entstehen lassen. So gab es zwar auch für sie in gewissem Maße ab 1935 Einschränkungen und Entrechtungen, wie beispielsweise ein Verbot arische Partner zu heiraten, bestimmte Berufe zu ergreifen oder beizubehalten etc. Sie hatten aber das fragwürdige Privileg in den Wehrdienst eingezogen zu werden, arbeiten zu gehen und ihre Wohnungen behalten und bei ihren arischen Ehepartnern bleiben zu dürfen. Sie entgingen dem Arbeitsdienst und der Gefangennahme. Erst ab 1940 „durften“ sie nicht mehr Soldat sein und ab 1942 mit der Entscheidung über die „Endlösung“ waren auch sie in Lebensgefahr.

Wenn wir also heute die Bezeichnungen „Halbjude“ oder "Vierteljude" etc. verwenden, so setzen wir damit eine Klassifizierung fort, die sich die Nationalsozialisten ausgedacht haben, um ihr Vernichtungswerk administrativ und logistisch wirksam und erfolgreich durchzuführen. Die aber jeder Vernunft und Wissenschaft entgegensteht. Ahnungslos benutzen auch heute noch intellektuelle, liberale und aufgeklärte Menschen diese Termini und setzen damit unwissentlich die ungerechtfertigte und stigmatisierende Kategorisierung fort.

Mitnichten kann und werde ich mich also zukünftig als Vierteljüdin bezeichnen!

Mein Vater war kein Halbjude sondern ein deutscher Katholik mit einem jüdischen Vater, der von dem Staat in dem er lebte und für den er in den Krieg gezogen ist, zu etwas gemacht wurde, was gar nicht existiert. Einzig und allein, um den Rassen- und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten möglich zu machen.

Aber dennoch, es gibt sie, eine ethnische Zuordnung. Das Ergebnis meines DNA Testes weist mich zu 14,4% als Aschkenasische Jüdin aus. Ich trage also Erbteile der Juden in mir, die im frühen Mittelalter die Alpen überquerten und in Nord- und Mitteleuropa siedelten. Aufgrund von Progromen, Kriegen und Vertreibungen führte die Siedlungsbewegung weiter nach Ost- und Südosteuropa, wo sich große jüdische Gemeinden bildeten und woher auch meine Urgroßeltern und Großeltern stammen. Durch die jahrhunderte alte Tradition der Endogamie (d.h. Verheiratung nur zwischen Angehörigen der eigenen Volks-/ Religionsgruppe) haben sich die genetischen Merkmale bis heute deutlich nachweisbar erhalten. Betrachte ich meine DNA Matches, d.h. die von MyHeritage herausgefilterten Personen, die einen gewissen Anteil genetischer Übereinstimmung mit mir haben, dann bin ich mit 1000en aschkenasischen Personen vor allem in den USA aber auch in aller Welt im 3.-5. Cousinengrad verwandt.

Eine ethnische Zuordnung jüdischer Herkunft ist also genetisch möglich. Seien wir froh, dass die Nationalsozialisten das nicht wussten. Und seien wir uns alle bewusst: es gibt sie nicht "die" Biodeutschen, "die" Schwarzen, "die" Juden. Wir alle sind eine bunte Mischung aus allerhand ethnischen Gruppen und genetischen Mischungen. Und die Genetik zeigt uns auch, dass nichts 1:1 an die Kinder weitergegeben wird. Jeder ererbt eine bunte Mischung zusammengewürfelter Gene von Vater und Mutter und den Vorfahren und bildet sein ganz persönliches, wunderbares Genom. Selbst bei jedem Geschwister kommt eine andere und ganz eigene Mischung zustande.

Wir sind also alle ganz unterschiedlich und in dieser Unterschiedlichkeit alle gleich.

Und ich bin eine Person mit askenasischem Hintergrund.