Mein Leben lang habe ich meinen Vater als Halbjuden bezeichnet und meine Schwestern und mich als Vierteljüdinnen. Aus meinem Verständnis heraus, weil sein Vater jüdisch war und seine Mutter nicht. Warum aber wurde er nicht als „Halbkatholike“ bezeichnet, obwohl seine Mutter katholisch war? Da liegt der Hase begraben. Sicher: mit der Zuordnung zum jüdisch sein in Form der Bezeichnung Halbjude oder Vierteljude hat man sich direkt der Opferseite zugeordnet und sich von der „Täterabstammung“ distanziert. Bei genauer Betrachtung auch das fadenscheinig: Vater hat von 1939 bis 1942 in der Wehrmacht gedient. Den Frankreichfeldzug mitgemacht, und in diesem Zusammenhang gemäß heutiger Betrachtung sich sicherlich an Unrechtshandlungen beteiligt. Immerhin hat er aus Frankreich wertvolle Geschenke in die Heimat geschickt: Porzellan, schöne Stoffe etc. Wohl kaum vom mageren Soldatensold erworben.
Was also ist
ein Halbjude und wie ordnet man ihn zu?
Zum ersten
Mal bin ich darauf gestoßen, dass wohl eine andere Ideologie hinter der
Bezeichnung steckt, als das was ich immer dachte, als ich meinen Vater und
seine erste Tochter in den Unterlagen der Volkszählung von 1939 fand. Bei
meinem Vater war unter „Rasse“ das Kürzel JJ/NN verzeichnet, bei meiner
Schwester JN/NN. Also konnte es hier nicht um die Abstammung vom Vater gehen,
sonst wäre es ja J/N bei beiden gewesen.
Die
Nationalsozialisten fokussierten sich auf die Juden als Staatsfeinde und
Parasiten der Gesellschaft und strebten deren Vernichtung an. Wie aber sollte
man einen Juden definieren, um ihn selektieren und als Feind kenntlich machen
zu können? In Deutschland lebende Juden waren in aller Regel „Reichsdeutsche“.
Sie hatten einen Platz in der Gesellschaft, waren etabliert, brachten
Geistesgrößen, Musiktalente, erfolgreiche Unternehmer hervor und befruchteten
die kulturelle Szene. Sie waren Teil des Alltagslebens, der Arbeitswelt und des
sozialen Umfelds. Man konnte sie nicht anhand ihres Aussehens selektieren,
große Nasen und dunkle Haare kommen in allen Volksgruppen vor, wie sich
unschwer an etlichen Nazis erkennen lässt, denken wir an Hitler selbst oder an
seinen Adlatus Göbbels. Ebenso sind Blauäugigkeit und blondes Haar bei
jüdischen Menschen zu beobachten. Rassisch ließ sich also eine Zugehörigkeit
nicht festlegen. Ein Problem größeren Ausmaßes für die Nationalsozialisten, mit
dem sich höchste Kreise und eine Vielzahl von Behörden und Vordenkern
beschäftigten. Die Lösung war dann, was im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze
die nun festgelegten Diskriminierungen, Progrome, Entrechtungen und Verfolgungen
rechtfertigte: die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion! Was aber, wenn die
betreffenden Personen sich vom jüdischen Glauben lösen würden, sich taufen ließen?
Um dieses Problem zu umgehen, hatten sich die Nazis eine besondere Wendung
ausgedacht: die religiöse Zugehörigkeit der Großeltern sollte entscheiden, wer
und zu welchem Grad er Jude ist! Die Großeltern waren meist schon verstorben
oder würden kaum ihren Glauben aufgeben. Die Möglichkeiten sich dem
„Judenstempel“ zu entziehen waren damit gering.
Hatte jemand
also vier Großeltern jüdischen Glaubens, so wurde er als Volljude bezeichnet
(JJ/JJ). Waren drei Großeltern jüdisch war man Dreivierteljude (JJ/JN) und bei zwei
jüdischen Großeltern Halbjude (JJ/NN) usw.
Die sog.
Mischlinge, die Halbjuden, waren Wesen zwischen Baum und Borke und bereiteten
den Nazis Kopfzerbrechen. In ihnen floss arisches Blut, sie hatten arische
Mütter, Väter, Großeltern. Sie in gleicher Weise zu misshandeln, wie die sog.
Volljuden könnte Widerstand in der Bevölkerung entstehen lassen. So gab es zwar
auch für sie in gewissem Maße ab 1935 Einschränkungen und Entrechtungen, wie
beispielsweise ein Verbot arische Partner zu heiraten, bestimmte Berufe zu
ergreifen oder beizubehalten etc. Sie hatten aber das fragwürdige Privileg in
den Wehrdienst eingezogen zu werden, arbeiten zu gehen und ihre Wohnungen
behalten und bei ihren arischen Ehepartnern bleiben zu dürfen. Sie entgingen
dem Arbeitsdienst und der Gefangennahme. Erst ab 1940 „durften“ sie nicht mehr
Soldat sein und ab 1942 mit der Entscheidung über die „Endlösung“ waren auch
sie in Lebensgefahr.
Wenn wir
also heute die Bezeichnungen „Halbjude“ oder "Vierteljude" etc. verwenden, so setzen
wir damit eine Klassifizierung fort, die sich die Nationalsozialisten
ausgedacht haben, um ihr Vernichtungswerk administrativ und logistisch wirksam
und erfolgreich durchzuführen. Die aber jeder Vernunft und Wissenschaft
entgegensteht. Ahnungslos benutzen auch heute noch intellektuelle, liberale und
aufgeklärte Menschen diese Termini und setzen damit unwissentlich die ungerechtfertigte und stigmatisierende Kategorisierung fort.
Mitnichten
kann und werde ich mich also zukünftig als Vierteljüdin bezeichnen!
Mein Vater
war kein Halbjude sondern ein deutscher Katholik mit einem jüdischen Vater, der
von dem Staat in dem er lebte und für den er in den Krieg gezogen ist, zu etwas
gemacht wurde, was gar nicht existiert. Einzig und allein, um den Rassen- und
Vernichtungswahn der Nationalsozialisten möglich zu machen.
Aber dennoch,
es gibt sie, eine ethnische Zuordnung. Das Ergebnis meines DNA Testes weist
mich zu 14,4% als Aschkenasische Jüdin aus. Ich trage also Erbteile der Juden
in mir, die im frühen Mittelalter die Alpen überquerten und in Nord- und
Mitteleuropa siedelten. Aufgrund von Progromen, Kriegen und Vertreibungen führte
die Siedlungsbewegung weiter nach Ost- und Südosteuropa, wo sich große jüdische Gemeinden bildeten und woher auch meine Urgroßeltern und Großeltern stammen.
Durch die jahrhunderte alte Tradition der Endogamie (d.h. Verheiratung nur zwischen Angehörigen
der eigenen Volks-/ Religionsgruppe) haben sich die genetischen Merkmale bis
heute deutlich nachweisbar erhalten. Betrachte ich meine DNA Matches, d.h. die
von MyHeritage herausgefilterten Personen, die einen gewissen Anteil genetischer
Übereinstimmung mit mir haben, dann bin ich mit 1000en aschkenasischen Personen
vor allem in den USA aber auch in aller Welt im 3.-5. Cousinengrad verwandt.
Eine
ethnische Zuordnung jüdischer Herkunft ist also genetisch möglich. Seien wir
froh, dass die Nationalsozialisten das nicht wussten. Und seien wir uns alle
bewusst: es gibt sie nicht "die" Biodeutschen, "die" Schwarzen, "die" Juden.
Wir alle sind eine bunte Mischung aus allerhand ethnischen Gruppen und genetischen Mischungen. Und die
Genetik zeigt uns auch, dass nichts 1:1 an die Kinder weitergegeben wird. Jeder
ererbt eine bunte Mischung zusammengewürfelter Gene von Vater und Mutter und
den Vorfahren und bildet sein ganz persönliches, wunderbares Genom. Selbst bei jedem Geschwister kommt eine andere und ganz eigene Mischung
zustande.
Wir sind
also alle ganz unterschiedlich und in dieser Unterschiedlichkeit alle gleich.
Und ich bin
eine Person mit askenasischem Hintergrund.