Montag, 17. Mai 2021

Halbjude- die Kontinuität des Nazidenkens

   

Mein Leben lang habe ich meinen Vater als Halbjuden bezeichnet und meine Schwestern und mich als Vierteljüdinnen. Aus meinem Verständnis heraus, weil sein Vater jüdisch war und seine Mutter nicht. Warum aber wurde er nicht als „Halbkatholike“ bezeichnet, obwohl seine Mutter katholisch war? Da liegt der Hase begraben. Sicher: mit der Zuordnung zum jüdisch sein in Form der Bezeichnung Halbjude oder Vierteljude hat man sich direkt der Opferseite zugeordnet und sich von der „Täterabstammung“ distanziert. Bei genauer Betrachtung auch das fadenscheinig: Vater hat von 1939 bis 1942 in der Wehrmacht gedient. Den Frankreichfeldzug mitgemacht, und in diesem Zusammenhang gemäß heutiger Betrachtung sich sicherlich an Unrechtshandlungen beteiligt. Immerhin hat er aus Frankreich wertvolle Geschenke in die Heimat geschickt: Porzellan, schöne Stoffe etc. Wohl kaum vom mageren Soldatensold erworben.

Was also ist ein Halbjude und wie ordnet man ihn zu?

Zum ersten Mal bin ich darauf gestoßen, dass wohl eine andere Ideologie hinter der Bezeichnung steckt, als das was ich immer dachte, als ich meinen Vater und seine erste Tochter in den Unterlagen der Volkszählung von 1939 fand. Bei meinem Vater war unter „Rasse“ das Kürzel JJ/NN verzeichnet, bei meiner Schwester JN/NN. Also konnte es hier nicht um die Abstammung vom Vater gehen, sonst wäre es ja J/N bei beiden gewesen.

Die Nationalsozialisten fokussierten sich auf die Juden als Staatsfeinde und Parasiten der Gesellschaft und strebten deren Vernichtung an. Wie aber sollte man einen Juden definieren, um ihn selektieren und als Feind kenntlich machen zu können? In Deutschland lebende Juden waren in aller Regel „Reichsdeutsche“. Sie hatten einen Platz in der Gesellschaft, waren etabliert, brachten Geistesgrößen, Musiktalente, erfolgreiche Unternehmer hervor und befruchteten die kulturelle Szene. Sie waren Teil des Alltagslebens, der Arbeitswelt und des sozialen Umfelds. Man konnte sie nicht anhand ihres Aussehens selektieren, große Nasen und dunkle Haare kommen in allen Volksgruppen vor, wie sich unschwer an etlichen Nazis erkennen lässt, denken wir an Hitler selbst oder an seinen Adlatus Göbbels. Ebenso sind Blauäugigkeit und blondes Haar bei jüdischen Menschen zu beobachten. Rassisch ließ sich also eine Zugehörigkeit nicht festlegen. Ein Problem größeren Ausmaßes für die Nationalsozialisten, mit dem sich höchste Kreise und eine Vielzahl von Behörden und Vordenkern beschäftigten. Die Lösung war dann, was im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze die nun festgelegten Diskriminierungen, Progrome, Entrechtungen und Verfolgungen rechtfertigte: die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion! Was aber, wenn die betreffenden Personen sich vom jüdischen Glauben lösen würden, sich taufen ließen? Um dieses Problem zu umgehen, hatten sich die Nazis eine besondere Wendung ausgedacht: die religiöse Zugehörigkeit der Großeltern sollte entscheiden, wer und zu welchem Grad er Jude ist! Die Großeltern waren meist schon verstorben oder würden kaum ihren Glauben aufgeben. Die Möglichkeiten sich dem „Judenstempel“ zu entziehen waren damit gering.

Hatte jemand also vier Großeltern jüdischen Glaubens, so wurde er als Volljude bezeichnet (JJ/JJ). Waren drei Großeltern jüdisch war man Dreivierteljude (JJ/JN) und bei zwei jüdischen Großeltern Halbjude (JJ/NN) usw.

Die sog. Mischlinge, die Halbjuden, waren Wesen zwischen Baum und Borke und bereiteten den Nazis Kopfzerbrechen. In ihnen floss arisches Blut, sie hatten arische Mütter, Väter, Großeltern. Sie in gleicher Weise zu misshandeln, wie die sog. Volljuden könnte Widerstand in der Bevölkerung entstehen lassen. So gab es zwar auch für sie in gewissem Maße ab 1935 Einschränkungen und Entrechtungen, wie beispielsweise ein Verbot arische Partner zu heiraten, bestimmte Berufe zu ergreifen oder beizubehalten etc. Sie hatten aber das fragwürdige Privileg in den Wehrdienst eingezogen zu werden, arbeiten zu gehen und ihre Wohnungen behalten und bei ihren arischen Ehepartnern bleiben zu dürfen. Sie entgingen dem Arbeitsdienst und der Gefangennahme. Erst ab 1940 „durften“ sie nicht mehr Soldat sein und ab 1942 mit der Entscheidung über die „Endlösung“ waren auch sie in Lebensgefahr.

Wenn wir also heute die Bezeichnungen „Halbjude“ oder "Vierteljude" etc. verwenden, so setzen wir damit eine Klassifizierung fort, die sich die Nationalsozialisten ausgedacht haben, um ihr Vernichtungswerk administrativ und logistisch wirksam und erfolgreich durchzuführen. Die aber jeder Vernunft und Wissenschaft entgegensteht. Ahnungslos benutzen auch heute noch intellektuelle, liberale und aufgeklärte Menschen diese Termini und setzen damit unwissentlich die ungerechtfertigte und stigmatisierende Kategorisierung fort.

Mitnichten kann und werde ich mich also zukünftig als Vierteljüdin bezeichnen!

Mein Vater war kein Halbjude sondern ein deutscher Katholik mit einem jüdischen Vater, der von dem Staat in dem er lebte und für den er in den Krieg gezogen ist, zu etwas gemacht wurde, was gar nicht existiert. Einzig und allein, um den Rassen- und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten möglich zu machen.

Aber dennoch, es gibt sie, eine ethnische Zuordnung. Das Ergebnis meines DNA Testes weist mich zu 14,4% als Aschkenasische Jüdin aus. Ich trage also Erbteile der Juden in mir, die im frühen Mittelalter die Alpen überquerten und in Nord- und Mitteleuropa siedelten. Aufgrund von Progromen, Kriegen und Vertreibungen führte die Siedlungsbewegung weiter nach Ost- und Südosteuropa, wo sich große jüdische Gemeinden bildeten und woher auch meine Urgroßeltern und Großeltern stammen. Durch die jahrhunderte alte Tradition der Endogamie (d.h. Verheiratung nur zwischen Angehörigen der eigenen Volks-/ Religionsgruppe) haben sich die genetischen Merkmale bis heute deutlich nachweisbar erhalten. Betrachte ich meine DNA Matches, d.h. die von MyHeritage herausgefilterten Personen, die einen gewissen Anteil genetischer Übereinstimmung mit mir haben, dann bin ich mit 1000en aschkenasischen Personen vor allem in den USA aber auch in aller Welt im 3.-5. Cousinengrad verwandt.

Eine ethnische Zuordnung jüdischer Herkunft ist also genetisch möglich. Seien wir froh, dass die Nationalsozialisten das nicht wussten. Und seien wir uns alle bewusst: es gibt sie nicht "die" Biodeutschen, "die" Schwarzen, "die" Juden. Wir alle sind eine bunte Mischung aus allerhand ethnischen Gruppen und genetischen Mischungen. Und die Genetik zeigt uns auch, dass nichts 1:1 an die Kinder weitergegeben wird. Jeder ererbt eine bunte Mischung zusammengewürfelter Gene von Vater und Mutter und den Vorfahren und bildet sein ganz persönliches, wunderbares Genom. Selbst bei jedem Geschwister kommt eine andere und ganz eigene Mischung zustande.

Wir sind also alle ganz unterschiedlich und in dieser Unterschiedlichkeit alle gleich.

Und ich bin eine Person mit askenasischem Hintergrund.