Freitag, 8. Juli 2022

Mit 9€ ins Bahn-Abenteuer

Selbsttest ahoi!

Mein 9€ Abenteurer hat begonnen. Als Testrecke habe ich mir Berlin-Hannover/ Langenhagen ausgesucht, eine Fahrt die ich seit vielen Jahren mehrmals jährlich mit dem Auto zurücklege, um Freunde in meiner alten Heimat zu besuchen. Ich will ergründen, wann sich das günstige Ticket lohnt, ob entferntere Ziele in vertretbarer Zeit zu erreichen und wie verbindlich die Anschlüsse sind. Dass eine Fahrt mit dem 9€ Ticket zu touristischen Zielen und oder am Wochenende eher quälend als erholsam ist, hat sich herumgesprochen. Dass Berufspendler und regelmäßige Öffi-Nutzer damit sparen können ist auch klar.

Um kurz vor 7 Uhr stehe ich also nach 12 Minuten Fahrt mit der Tram auf dem Bahnsteig am Alexanderplatz, der noch im Halbschlaf eine ungewöhnliche Stille aufweist, und warte auf den Regionalzug, der mich nach Magdeburg bringen soll. Habe ich wirklich diese frühe Verbindung ausgesucht? Nicht ahnend wie müde man sein kann, wenn man um 5.30 Uhr aufstehen muss, habe ich die frühe Abfahrtzeit tatsächlich ausgewählt, um auch bei Verspätungen, Zugausfällen oder anderen Imponderabilitäten noch genügend Zeit am Zielort und mit meinen Freunden verbringen zu können.


Der Zug rollt pünktlich ein und die inzwischen angekommenen Fahrgäste bevölkern die Sitze. Es sind genug Plätze für alle da, niemand muss stehen. Es bleiben Sitzplätze leer. Moment mal, das können aber keine Berliner sein, die sich hier niederlassen: jeder trägt eine Maske! Und dann noch über der Nase!! Oder haben die Berliner etwa mehr Ehrfrucht vor der Deutschen Bahn als vor der BVG?

 Nun zuckelt die Bahn gemächlich durch Berlin und hält allein in der Stadt an 4 Haltestellen. Danach nimmt der Zug Fahrt auf und wir fahren über Potsdam (wo sich die Anzahl der Fahrgäste drastisch vermindert) durch Brandenburg. Viel Landschaft, wenig Siedlungen. Wie in den Boden gesteckte riesige Streichhölzer stehen die Kiefern in Reih und Glied und sehen dabei nicht gerade eben gesund aus. Waldstücke wechseln sich mit großen Brachen und einigen Agrarflächen ab, auf denen ich einen Fuchs zielstrebig in eine Richtung laufen sehe, in der ich später zwei Kraniche entdecke.


Gelegentlich ist in der Ferne eine verfallene landwirtschaftliche Produktionsanlage oder ein verlassener Bauernhof zu sehen. Wir halten in Ortschaften, die gar keine zu sein scheinen, denn neben dem oft verfallenen Bahnhofsgebäude scheint es gar keine Ansiedlung zu geben. Allein die Namen dieser verschwiegenen Orte müssten Fans der deutschen Sprache, die gern die Herkunft von Ortsnamen erforschen, herausfordern: Wusterwitz, Kirchmöser, Niederndodeleben, Schandelah und Ovelgünne, um nur einige zu nennen. Urbex Freaks müssen hier Feste feiern, so viel Abgerocktes, Verfallenes und Verlassenes ist hier zu finden. Ein paar Graffiti und Kritzeleien weisen darauf hin, dass die Freunde des Verfalls schon Fährte aufgenommen haben.


Mir wird langsam klar, warum sich die Menschen in den ländlichen, östlichen Gebieten abgehängt und nicht mitgenommen fühlen. Die schöne neue Welt der Investoren, der Konsumtempel, des Wiederherrichtens alter Bausubstanz oder gar des modernen Bauens ist hier ebenso wenig

angekommen, wie ein flächendeckendes Internet und Mobilnetz. An einer Haltestelle müssen die Fahrgäste gar über den Schotter am Schienenrand, durch eine Senke über 2 wie selbstgezimmerte Stufen zur nächsten Straße krauchen. Entwürdigend, anders kann ich diesen Service am Bahnkunden nicht empfinden.

Nach 1 ¾ Stunden fahren wir in Magdeburg ein. Offensichtlich ein geschäftiger Umsteigeplatz. Der Bahnhof wird gerade renoviert. Pünktliche Ankunft und pünktliche Abfahrt des Anschlusszuges nach Braunschweig. Geht doch, liebe Bahn! Ich bin beeindruckt.

Auch auf meiner zweiten Strecke ist der Zug nicht ausgelastet, freie Sitzplätze sind verfügbar. (Übrigens haben alle Züge ein Fahrradabteil, dass jeweils gähnend leer war)

Wir haben inzwischen 2 Landesgrenzen unbemerkt überfahren, sind von Berlin über Brandenburg und Sachsen-Anhalt in Richtung Niedersachsen unterwegs. Die Landschaft wechselt. Es wird grüner und die Kiefernwälder werden von Mischwäldern abgelöst. Alles deutet darauf hin, dass es hier mehr Regen gibt als in Berlin-Brandenburg.

Nach etwas mehr als einer Stunde in Braunschweig angekommen bildet sich auf dem Bahnsteig eine lange Schlange. Es gibt nur eine schmale Treppe für Ankommende und Abreisende. Es entsteht ein ziemliches Geschiebe. Alle sind erstaunlich geduldig.

Pünktlich fährt der Zug nach Hannover in Braunschweig ab und erreicht die Landeshauptstadt ebenso pünktlich. Ist diese unerwartete Pünktlichkeit ein Phänomen der Regionalbahnen?

Leider ist ab Hannover Schluss mit lustig und mit pünktlich. Die S-Bahn nach Langenhagen (regulär eine Fahrt von 10 Minuten) fährt mit 36 Minuten Verspätung ab und ist hoffnungslos überfüllt.

Am Ende habe ich von Haustür zu Haustür gut 6,5 Stunden gebraucht. Bis zum Antritt des Rückweges am nächsten Tag um 13.30 Uhr habe ich also etwa 24h Zeit für einen schönen Besuch und einen erholsamen Schlaf.

Die Rückfahrt verläuft ähnlich wie die Hinfahrt: bis Hannover fallen S-Bahnen aus oder sind verspätet, aber ich habe schon gelernt anstatt der S-Bahn den Regionalzug zu nehmen. Ab Hannover läuft wieder alles reibungslos. In Braunschweig gibt es wegen eines Polizeieinsatzes eine verspätete Abfahrt, die aber unterwegs wieder eingeholt wird. Aus den beruhigenden Worten des Zugführers lässt sich schließen, dass ein renitenter Fahrgast von den Ordnungshütern fortgebracht werden musste.

 Mein Fazit?

Für Fahrten in die nähere Umgebung außerhalb von Stoßzeiten und für längere Fahrten, wenn man viel Zeit und Geduld und keine Terminvorgaben hat, lässt sich das 9€ Ticket gut einsetzen. Ich fand die Fahrt angenehm, habe die Reise durch den wilden Osten interessiert in mich aufgenommen. Eine angenehme Entschleunigung. Die Züge waren allesamt sauber, mit gepflegten und bequemen Polstersitzen. Die Fahrgäste durchweg angenehm. Pünktlichkeit war generell gegeben und alle Fahrten waren in keinster Weise mit den visuellen, olfaktorischen und auditiven Erscheinungen zu vergleichen, die einem so manches Mal in Berliner U- oder S-Bahnen die Sinne zu rauben drohen. Ihr wisst schon, was ich meine!

Für mich ist klar: nächster Versuch Hamburg!

 

Berlin-Hannover

Fahrtzeit von Haustür zu Haustür

Kosten

Auto

(292km, Diesel, Verbrauch 6,5l/100km)                   3,5-4 Stunden

40 €*

Deutsche Bahn, schnelle Verbindung

Tram 18 Min.; ICE 1 Std 55 Min; S-Bahn 10 Min gesamt    2 Stunden 23 Min

57,90 €*

Nahverkehr

ohne Tram zweimal Umsteigen und etwa 1 Stunde Aufenthalte         6 Stunden und 30 Minuten

9 €

 

*die Fahrpreise sind natürlich nur beispielhaft und variieren tagesabhängig, mit Spartarifen und Spritpreisen etc.